Unser Diabetes-Blog

Fortschritt durch Digitalisierung

Geschrieben von Profil | 21.02.2019 12:12:00

Bessere Studien, bessere Medikamente und eine bessere Versorgung für Menschen mit Diabetes

Diabetes ist ein vielschichtiges globales Problem. Trotz Verfügbarkeit von wirksamen Medikamenten und Technologien erreichen viele Patienten ihre Behandlungsziele nicht. Das UK National Diabetes Audit fand heraus, dass lediglich 30 % aller Menschen mit Typ 1 Diabetes und 67 % aller Menschen mit Typ 2 Diabetes HbA1c Zielwerte von ⩽58 mmol/L (7.5 %) erreichen. Bezieht man den Blutdruck und den Cholesterinspiegel ein, liegt die Zielerreichung lediglich bei 19 beziehungsweise 41 %.

Die gute Nachricht ist, dass Diabetes viel Raum für innovative Lösungen bietet. Die entscheidenden Risikofaktoren sind beeinflussbar, Typ 2 Diabetes ist prinzipiell reversibel und die Bedeutung des Patienten-Selbstmanagements ist außerordentlich groß. Diabetes wird daher als ein Paradigma für die Implementierung von Produkten und Dienstleistungen angesehen. Diese Produkte sollten darauf ausgelegt sein Behandlungswiderstände (treatment inertia) zu reduzieren. Außerdem sollten sie die wohlbekannte Lücke zwischen der oft hohen Effizienz von neuen Substanzen in frühen klinischen Studien und der oft geringer als erwarteten Effektivität der zugelassenen Medikamente in der Versorgungsrealität (Efficacy – Effectiveness Gap – E2E Gap) schließen.

Diabetes ist eine Datenmanagement-Erkrankung

Diabetes kann als eine Datenmanagement-Erkrankung betrachtet werden. Die Nutzung von in alltäglichen Lebensumgebungen (real-life) und real-time erhobenen metabolischen Daten und Verhaltensmuster ist ein etablierter Teil einer zeitgemäßen, vom Patienten selbst umgesetzten Insulintherapie. Die alltägliche Diabetes-Versorgung führt zur Erhebung großer Datenmengen. Eine Sammlung, Auswertung und Nutzung dieser Daten durch digitale Werkzeuge birgt erhebliche Chancen für Investitionen in eine stärker personalisierte und integrierte Versorgung von Menschen mit Diabetes.

Die digitale Verarbeitung von real-life Daten birgt außerdem ein enormes Potenzial, indem Möglichkeiten der Prävention und Remission des Typ 2 Diabetes gefunden werden können. Darüber hinaus wurde kürzlich eine Kooperation zwischen dem JDRF (amerikanische Non-Profit-Organisation zur Förderung der Diabetes-Forschung) und IBM geschlossen. In diesem Rahmen werden große Datenbanken angelegt, um die individuellem Unterschiede im Verlauf des Typ 1 Diabetes besser zu verstehen. Zusätzlich kann die Früherkennung und Verlauf der Erkrankung verbessert werden.

Digitale Biomarker können die Aussagekraft klinischer Studien verbessern

Die sensorbasierte Erhebung von real-life Daten, die von Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmern zur Bestimmung digitaler Biomarker im Verlauf von Diabetes-Studien generiert werden, birgt ein hohes Potenzial die Aussagekraft dieser Studien (externe Validität, Vorhersagepotenzial) zu erhöhen. Kontinuierlich und außerhalb der Klinik im Alltagsleben erfasste digitale Biomarker helfen dabei, den Einfluss sogenannter Behandlungseffekt-Modifikatoren (Treatmet-Effect-Modifier) auf die Effizienz der Testsubstanz zu beurteilen. Darüber hinaus können Endpunkte erfasst werden, welche die Fähigkeit der Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmer wiederspiegeln ihren Alltagsverrichtungen nachzukommen. Die kontinuierliche real-life Erfassung kardio-respiratorischer Funktionen und lokomotorischer Muster kann dazu beitragen präzisere Vorhersagen darüber zu treffen, in welchen Ausmaß eine Testsubstanz in späteren Phasen der klinischen Entwicklung oder nach Zulassung als Medikament unerwünschte Nebenwirkungen entfalten könnte. Digitale Biomarker könnten also dazu beitragen, die Medikamentenentwicklung kosteneffizienter zu gestalten, im Alltag auftretende Behandlungswiderstände abzubauen und dadurch die E2E Gap zu schließen.

Innovationsbarrieren müssen sektorenübergreifend abgebaut werden

Obwohl Diabetes hervorragende Chancen für patientenzentrierte Innovationen besonders in der Medikamenten- und Technologie-Entwicklung und der Patientenversorgung bietet, gilt es eine Vielzahl von Innovationsbarrieren abzubauen, um digitale Produkte und Dienstleistungen nachhaltig implementieren zu können. Der Abbau von Innovationsbarrieren erfordert die Arbeit an sektorenübergreifenden Themen. Diese werden am besten im Umfeld einer offenen und auf Zusammenarbeit ausgelegten Innovationskultur aufgegriffen. Hier sollten Repräsentantinnen und Repräsentanten aus Forschung & Entwicklung, klinischer Forschung, Weiterbildung & Training sowie Versorgung und Kostenerstattung zusammenarbeiten.

Profil ist Teil der EIT Health knowledge and innovation community (KIC). Dies ist eine öffentlich-private Partnerschaft, die sich der Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen widmet und dabei der demografischen Alterung unserer Gesellschaften Rechnung trägt. Ziel ist es, die Verlängerung einer hohen gesundheitsbezogenen Lebensqualität, die Erleichterung eines aktiven Älterwerdens, sowie eine Verbesserung der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen zu erreichen [1]. 

Diese KIC arbeitet sektorenübergreifend unter anderen an diesen Themen:

  • Co-creation: Einbeziehung von Nutzern und anderen Interessengruppen bereits sehr früh in die Entwicklung und Testung digitaler Lösungen; gemeinsame Entscheidungskompetenz auf den Pfaden zu Marktzulassung, Zusatznutzenbestimmung und Erstattung durch die Krankenkassen.
  • Daten: Hier werden die Debatten über Eigentum, Verfügbarkeit, Integrität und Vergütung der Datenfreigabe geführt. Regeln zum Datenmanagement sowie der Sicherstellung von Interoperabilität, Privatsphäre und Cyberresilienz wird höchste Priorität beigemessen.
  • Regulatorische Anforderungen: Qualitätssicherung, regulatorische Anforderungen an Lifestyle Apps versus Apps, die als Komponenten von Medizinprodukten aktiv Therapie-Entscheidungen treffen und ggf. automatisiert umsetzen, sind zu klären. Ebenso wie die Rahmenbedingungen zur Nutzung von real-world Datensätzen (big data) im Zuge von Marktzulassungsverfahren sowie zur Unterstützung individualisierter Behandlungsentscheidungen.

Die Digitalisierung wird bessere Medikamente, Medizinprodukte und Versorgungsmöglichkeiten für Menschen mit Diabetes hervorbringen

Derzeit verfügbare Diabetes-Technologien wie Geräte für eine real-time kontinuierliche Blutzuckermessung (rtCGM) oder eine automatisierte Insulintherapie (künstliche Bauchspeicheldrüse, automated insulin delivery) sollten als Übergangstechnologien betrachtet werden. Sie sind nach wie vor einem auf den Blutzucker zentrierten Ansatz der Betrachtung des Diabetes, der Entwicklung neuer Diabetes-Medikamente und der Verbesserung des Diabetes-Selbstmanagements verhaftet [2].

Digitale Werkzeuge, die eine kontinuierliche real-world Erfassung kardiorespiratorischer Parameter erlauben und als validierte Medizinprodukte hoher Qualität eingestuft werden können, haben ein hohes Potenzial die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Diabetes bereits in den frühen Phasen der Medikamentenentwicklung stärker abzubilden. Das wird den prädiktiven Wert und die externe Validität dieser Studien erhöhen und wird damit dazu beitragen, sehr teure Abbrüche von Medikamentenentwicklungsprogrammen in ihren späten Phasen oder gar den Rückzug bereits zugelassener Medikamente vom Markt zu vermeiden. Durch den Abbau von Behandlungswiderständen und einer Verengung der E2E Gap wird die frühe Bestimmung digitaler Biomarker am Ende zu einer höheren Kosteneffizienz in der Diabetes-Versorgung beitragen können.

Es ist bereits heute absehbar, dass gerade Diabetes-Technologien zunehmend in digital hoch vernetzte Ökosysteme integriert werden, in denen Gesundheitsversorgung und soziale Betreuung eng zusammenspielen. In diesem Kontext wird die kontinuierliche Erfassung von Stoffwechselsignaturen und von Parametern, welche die Alltagsbewältigungsfähigkeiten wiederspiegeln, umfangreiche real-world Datenbestände erschaffen. Diese können über selbst lernende Algorithmen ausgewertet und auf verschiedene Weise genutzt werden. Im Ergebnis wird dies individuell maßgeschneiderte Anpassungen des Diabetes-Mangements und gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen hervorbringen. Über einen feed-back loop koppelt die Umsetzung der Anpassungen zurück auf die weiterhin erfassten Parameter. 

Die Digitalisierung wird eine zunehmende Optimierung der Diabetes-Versorgung in einer stärker als bisher auf die individuelle Person zentrierten Weise erlauben. Dadurch kann ein doppeltes Ziel erreicht werden, nämlich sowohl eine Verbesserung der alltäglichen Stoffwechselkontrolle als auch eine Optimierung von gesundheitsrelevanten Verhaltensgewohnheiten. Mittelfristig wird sich der Erfolg digitaler Strategien daran messen lassen müssen, inwieweit sie die Phase des selbst-bestimmten und unabhängigen Lebens von Menschen mit Diabetes verlängern und die Entwicklung von Gebrechlichkeit, Behinderungen und Diabetes-Komplikationen vermeiden helfen.