Unser Diabetes-Blog

100 Jahre Insulintherapie – was hat sich bis heute getan?

Geschrieben von Profil | 03.08.2021 08:30:00

Eine Mitte April 2021 erschienene Veröffentlichung* des leitenden Wissenschaftlers von Profil Dr. med. Tim Heise gibt eine Übersicht über die Zukunft der Insulintherapie. Wesentliche Aspekte der Arbeit werden im Folgenden vorgestellt.

Seit der Erstanwendung von Insulin vor 100 Jahren hat es vielfältige Verbesserungen bei den Insulinformulierungen gegeben. Große Fortschritte sind hinsichtlich der Insulinreinheit zu verzeichnen – damit verbunden sind Rückgänge von Antikörperbildung, allergischen Reaktionen bzw. Reaktionen an der Injektionsstelle. Mechanismen zur Verzögerung der Insulinaufnahme (Absorption) haben ebenso zu einer besseren Abdeckung des basalen Insulinbedarfs geführt, wie Veränderungen im Sinne einer beschleunigten Insulinabsorption Verbesserungen der Mahlzeiten-Insulinabdeckung bewirkt haben.

Abb.: Ein junges Mädchen vor und nach einer 4 monatigen Insulinbehandlung / Quelle: Wellcome Collection

Es gibt allerdings auch noch Schwachstellen: So ist Insulin von allen verfügbaren antidiabetischen Therapien mit dem höchsten Risiko für Hypoglykämien (Unterzuckerungen) verknüpft – insbesondere bei Menschen mit einem Diabetes mellitus Typ 1 oder einem seit Langem bestehenden Diabetes mellitus Typ 2. Darüber hinaus ist die Art der Verabreichung – das Spritzen von Insulin in das Unterhautfettgewebe – unbequem, und sie kann mit Gewichtszunahme oder Ängsten verbunden sein und so eine notwendige Insulintherapie ggf. hinauszögern.

Glücklicherweise gibt es auch aktuell klinische Entwicklungen mit dem Ziel einer weiteren Verbesserung von Insulinformulierungen. Einige werden in der Übersichtsarbeit vorgestellt, dies sind:

  • Insuline zur einmal wöchentlichen Injektion,
  • leberspezifische Insuline,
  • orale Insuline (Insuline in Tabletten- oder Kapselform zum Schlucken) und
  • sogenannte „smart insulins“.

Was weiß man über Insuline zur einmal wöchentlichen Injektion?

Insuline, die nur einmal pro Woche gespritzt werden müssen, werden die voraussichtlich nächste Erweiterung des Insulinportfolios sein.

Erste klinische Studiendaten deuten auf nur geringe Schwankungen unter einmal wöchentlich anzuwendenden Insulinen – mit dem Potenzial für eine bessere Stoffwechseleinstellung bzw. weniger Unterzuckerungen im Vergleich zu herkömmlichen Basalinsulinen. Auf der anderen Seite sind kurzfristige Insulindosis-Anpassungen mit sehr lang wirkenden Insulinen nicht möglich, sodass man auf potenzielle Phasen der Über- oder Unterversorgung mit Insulin und dem daraus resultierenden Risiko für Hypoglykämien oder Hyperglykämien (zu hohe Blutzuckerwerte) achten muss.

Gegenwärtig sind 2 unterschiedliche wöchentlich zu verabreichende Insuline in der klinischen Entwicklung: Insulin Icodec und Basalinsulin Fc (BIF).

Bisher wurden mehrere klinische Studien mit Icodec bei Studienteilnehmermit einem Diabetes mellitus Typ 2 durchgeführt. In einer der Studien bei noch nicht mit Insulin behandelten Studienteilnehmern mit Typ 2 Diabetes wurde Icodec über 26 Wochen einmal wöchentlich gespritzt – das Vergleichspräparat war Insulin glargin (U100), einmal täglich injiziert. Die Startdosis für Icodec betrug 70 Einheiten, für Insulin glargin 10 Einheiten. Die Insulindosen wurden wöchentlich angepasst – mit dem Ziel, einen Glukosewert (Zuckerwert) im Bereich von 70 bis 108 mg/dl zu erreichen. Die HbA1c-Ausgangswerte (HbA1c = Langzeit-Zuckerwert, gibt Auskunft über die Stoffwechsellage der letzten 3 Monate) von durchschnittlich knapp über 8 % sanken bis zum Ende der Behandlung nach 26 Wochen unter Icodec auf 6,69 % bzw. unter Insulin glargin auf 6,87 %. Die mittleren selbstgemessenen 9-Punkt-Blutzuckerprofile (Blutzucker = BZ) waren unter Icodec niedriger als unter Insulin glargin – der Unterschied betrug –8 mg/dl. Während das Auftreten und die Raten von Level-1-Unterzuckerungen (BZ unter 70 mg/dl) unter Icodec verglichen mit Insulin glargin bedeutsam häufiger waren, gab es bei den klinisch wichtigeren Level-2-Hypoglykämien (BZ unter 54 mg/dl) keine relevanten Unterschiede zwischen beiden Insulinen. In den letzten beiden Behandlungswochen waren die wöchentlichen Insulindosen unter Icodec 19 % niedriger als unter Insulin glargin – allerdings zeigte sich dieses Phänomen in anderen Studien nicht.

Beide Insuline waren darüber hinaus gut verträglich.

Vergleichbare Ergebnisse zeigten sich bei bereits mit Insulin sowie einem oralen Antidiabetikum behandelten Studienteilnehmern.

Für BIF gibt es bislang veröffentlichte Studiendaten einer einzigen Studie bei Typ 2 Diabetes – im Vergleich zu Insulin degludec. Beide BIF-Behandlungsgruppen waren der Insulin-degludec-Gruppe im Hinblick auf die HbA1c-Kontrolle nicht unterlegen. Es gab weniger Unterzuckerungen unter BIF im Vergleich zu Insulin degludec mit BZ-Werten von 70 mg/dl oder darunter bzw. eine vergleichbare Zahl von Level-2-Hypoglykämien und vergleichbare unerwünschte Ereignisse. Interessanterweise war die Gewichtszunahme in beiden BIF-Gruppen geringer als unter Insulin degludec.

Insgesamt zeigen diese ersten Studiendaten, dass die Dosierung mit einmal wöchentlich anzuwendenden Insulinen in dem beschriebenen Studienkollektiv von Teilnehmern mit Typ 2 Diabetes machbar und sicher ist. Auch die Dauer der Unterzuckerungen war vergleichbar zu der bei einmal täglich anzuwendenden Insulinen. Es gibt zwar noch einige offene Fragen und die Ergebnisse der großen Phase-3-Zulassungsstudien stehen noch aus, dennoch kann man vorhersagen, dass die zukünftige Insulinpalette auch Insuline zur einmal wöchentlichen Anwendung beinhalten wird. Ob diese den Start einer Insulinbehandlung bei Typ 2 Diabetes erleichtern bzw. ob sie ggf. auch für bestimmte Patienten mit Typ 1 Diabetes geeignet sind, bleibt abzuwarten.

Welche Bedeutung haben leberspezifische Insuline?

Ein Nachteil der Injektion von Insulin ins Unterhautfettgewebe ist, dass es niemals die Wirkung von körpereigenem Insulin nachahmen kann, ganz einfach, weil das normale 3 : 1-Gefälle zwischen der Leber und den peripheren Geweben (z. B. Muskel- bzw. Fettgewebe), das man bei körpereigenem Insulin sieht, das in die Lebervene gelangt, nicht mit subkutanem Insulin erreicht werden kann. Als Folge werden die peripheren Gewebe einem Zuviel an subkutan gespritztem Insulin ausgesetzt – mit einem erhöhten Risiko für Unterzuckerungen –, wohingegen es im Vergleich zu körpereigenem Insulin nur einen schwachen Effekt auf die Glukosebildung in der Leber gibt.

Einige klinische Studiendaten unterstreichen die potenziellen Vorteile von leberspezifischen Insulinanaloga. Das bekannteste Beispiel ist Basalinsulin peglispro (BIL).

BIL zeigte eine rasche Unterdrückung der Glukoseproduktion in der Leber und eine geringere und verzögerte Glukoseaufnahme der peripheren Gewebe verglichen mit Insulin glargin – bei Gesunden und bei Studienteilnehmern mit Typ 1 Diabetes. Klinisch führte dies zu einem bedeutsam niedrigeren HbA1c und weniger nächtlichen Unterzuckerungen sowie zu einer geringeren Gewichtszunahme bei Typ 2 Diabetes und sogar zu einem Gewichtsverlust bei Typ 1 Diabetes. Zwischenzeitlich wurde die weitere Entwicklung von BIL gestoppt, und zwar aufgrund einer beobachteten Leberfettvermehrung, erhöhter Triglyzerid-Werte (Fettwerte) und erhöhter Leberwerte im Blut sowie häufigerer Reaktionen an den Injektionsstellen, vor allem Fettgewebswucherungen (Lipohypertrophien).

Insulin als Tablette oder Kapsel zum Schlucken – gibt es eine Zukunft für orale Insuline?

Gegenwärtig sind als orale Mahlzeiteninsuline die beiden Insuline tregopil (oder IN-105) und ORMD-0801 in der klinischen Entwicklung. Zu beiden Insulinen liegen Studiendaten vor.

Insulin tregopil wird rasch vom Körper aufgenommen und muss 10 bis 30 Minuten vor den Mahlzeiten eingenommen werden. Eine Studie bei Typ 2 Diabetes erreichte ihr primäres Wirksamkeitsziel – eine für Placebos (Scheinmedikamente) angepasste HbA1c-Senkung von 0,7 % – nicht, trotz einer bedeutsamen Verbesserung der frühen postprandialen (nach der Mahlzeit gemessenen) Glukosewerte.

Für ORMD-0801 ist die Anzahl der in der Datenbank clinicaltrials.gov registrierten Studien (7 beendete, 5 rekrutierende und 3 noch nicht rekrutierende Studien) recht beeindruckend, allerdings wurde bislang keine der neueren beendeten Studien in einer medizinischen Zeitschrift veröffentlicht. Hinzu kommt, dass in keiner der Studien, für die Ergebnisse vorliegen, subkutanes Insulin als Vergleichssubstanz zur Anwendung kam, sodass die Ergebnisse schwierig zu interpretieren sind.
Von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) genehmigte Phase-3-Zulassungsstudien mit ORMD-0801 bei Typ 2 Diabetes werden aktuell durchgeführt.

Insgesamt muss man sagen, dass sich die Herausforderungen für orale Mahlzeiteninsuline seit 1923 nicht verändert haben. Die große Schwankungsbreite, die eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung verhindert, in Kombination mit sehr hohen erforderlichen Dosen zur Erzielung eines ausreichenden blutzuckersenkenden Effekts, insbesondere in zeitlichem Zusammenhang zu Mahlzeiten, schränken die klinische Wirksamkeit von oralem Mahlzeiteninsulin ein.

Die Entwicklung eines weiteren oralen Insulins, orales Insulin 338, ein lang wirkendes Basalinsulinanalog, wurde zwischenzeitlich gestoppt, da die Insulin-338-Dosen am Ende einer 8-wöchigen Behandlung etwa dem 58-Fachen von Insulin glargin entsprachen. Daher wurde die Produktion der für den breiten Einsatz erforderlichen Mengen an Insulin 338 als kommerziell nicht zukunftsfähig angesehen.

Was sind sogenannte „smart insulins“?

Glukosesensitive sogenannte „smart insulins“ (glucose-responsive insulin, GRI), die nur bei erhöhten Blutzuckerwerten agieren, sind der „heilige Gral“ der Insulintherapie. Ein Insulin, das den Blutzucker „automatisch“ in einem Bereich von etwa 70 bis 180 mg/dl hält sowie Unterzuckerungen sicher vermeidet, ohne die Notwendigkeit mühsamer und falscher Dosisanpassungen: Dies würde in der Tat die meisten insulinbedingten Nebenwirkungen beseitigen. Ein solches injizierbares Closed-Loop-System sollte allen Patienten eine passable Blutzuckereinstellung ermöglichen – ohne Entstehung diabetesbedingter Folgeschäden.

Theoretisch ist das Design eines „smart insulin“ simpel: Insulin muss an einen auf Glukose reagierenden Teil gekoppelt sein, der das Insulin freisetzt, wenn ein bestimmter Glukose-Zielwert überschritten wird, und der wieder an Insulin bindet, wenn der Blutzucker den Zielwert wieder erreicht hat.

Erste Konzepte gab es bereits in den 1970er-Jahren, aber die bloße Tatsache, dass GRIs noch weit entfernt von der klinischen Anwendung sind, weist auf große Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung hin. 2 Herausforderungen dabei sind beispielsweise der enge Blutzuckerzielbereich sowie die erforderliche schnelle Aktivierung und Inaktivierung des Insulins zur Vermeidung von Hypoglykämien bzw. von zu hohen Blutzuckerspiegeln.

Die Entwicklung einer Substanz, MK-2640, die am Menschen getestet wurde, wurde wieder eingestellt.

Ein ideales GRI sollte in der Lage sein, sowohl den Mahlzeiten- als auch den basalen Insulinbedarf abzudecken. Die Patienten müssten nur den Körperpool an GRI von Zeit zu Zeit auffüllen und das Insulin würde immer freigesetzt, wenn der Blutzucker ansteigt. Hierbei erscheint es allerdings zweifelhaft, dass ein basales GRI mit einer langen Halbwertzeit schnell genug freigesetzt würde, um den Mahlzeitenbedarf zu decken, oder dass ein Mahlzeiten-GRI mit kurzer Halbwertzeit als Basalinsulin agieren würde – ohne die Notwendigkeit für mehrere Injektionen pro Tag.

Vor Kurzem wurde ein weiteres GRI in einer ersten Studie am Menschen getestet – die Ergebnisse stehen noch aus.

Wie lautet das Fazit?

Die Insulintherapie der näheren Zukunft wird aller Voraussicht nach einmal wöchentlich anzuwendende Insuline umfassen, wohingegen es noch um einiges länger dauern wird, bis leberspezifische, orale oder glukosesensitive Insuline zur Standardbehandlung avancieren werden. Obwohl die Insulinbehandlung bereits vor 100 Jahren eingeführt wurde, ist die Entwicklung des Insulins noch lange nicht am Ende angekommen. Laufende Insulinentwicklungen haben ein hohes Potenzial zur weiteren Verbesserung der Sicherheit und Wirksamkeit der Insulintherapie in der Zukunft.

* Heise T. The future of insulin therapy. Diabetes Res Clin Pract 2021 May; 175:108820. doi: 10.1016/j.diabres.2021.108820. Epub 2021 Apr 16.